Körper und Tod

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24/09/24

Alexander-Technik


Anthropolog*innen befassen sich damit, wer wir als Menschen heute sind, wie wir so wurden und warum wir seit der neolithischen Revolution zunehmend große Schwierigkeiten haben, uns an die Welt anzupassen, die wir so tiefgreifend geformt und weitgehend zerstört haben. Körperarbeitende suchen einen Umgang mit den Anforderungen unserer Zeit und wollen die Lebensqualität und Langlebigkeit ihrer Klient*innen fördern. Ich denke nicht, dass emotionale Instabilität ein Charakterzug einiger weniger ist. Vielmehr ist sie eine Reaktion auf die enorme Geschwindigkeit und Komplexität der Welt sowie auf die menschliche Vereinzelung. Auf die Probleme also, die wir als Menschheit schaffen und gleichzeitig zu lösen versuchen. Viele körperliche Erkrankungen stehen mit psychischem Stress und Umweltbelastungen in Verbindung. Gerade deshalb macht es Sinn, Körper und Psyche als Einheit zu begreifen und zu gebrauchen.

Um mit Panikattacken, depressiven Episoden und Skoliose zu leben und sie womöglich loszuwerden, versuchte ich Gesprächstherapie, Kraftsport, Massage und mehr. Die Alexander-Technik hilft mir als Praxis am meisten – samt der Gemeinschaft aus Lehrenden und Studierenden, die zusammenkommen, um die Methode gemeinsam weiterzuentwickeln. Seitdem ich die ersten Stunden nahm und insbesondere, seitdem ich täglich in der Ausbildung zur Lehrerin bin, geht es mir emotional und körperlich viel besser. Die Tiefen und Schmerzen sind nicht mehr mit der gleichen Ohnmacht verbunden und kommen seltener und weniger langanhaltend vor. Die Höhen empfinde ich intensiver und gelassener zugleich.

Alexander-Technik ist eine ganzheitliche, körperorientierte Methode des Selbstgebrauchs. Sie hilft uns durch Beobachtung und Impulse, die eine Lehrperson mit den Händen gibt und mit Worten begleitet, ausgeglichener und aufmerksamer durchs Leben zu gehen. Selbstgebrauch meint unsere Art und Weise, mit unserem Denken, Fühlen, Bewegen und Handeln umzugehen. Alexander-Technik zeigt uns, wie wir gewohnte Reaktionen erkennen, Spannungen im Körper besser verteilen und unsere Gedanken so steuern können, dass sie uns von Nutzen sind, statt uns zusätzlich zu belasten oder fehlzuleiten.

Der Schauspieler Frederick Matthias Alexander, 1869 in Tasmanien geboren, rezitierte am liebsten Shakespeare. Da er aber seit seiner Kindheit Atembeschwerden hatte und bei längerem Sprechen stark heiser wurde, geriet er so in Verzweiflung, dass er alles Mögliche ausprobierte, um uneingeschränkt sprechen zu können. Nachdem ihm keine Behandlung anhaltend helfen konnte, setzte er sich vor den Spiegel und begann, sich beim Sprechen zu beobachten. Er entdeckte, dass er, sobald er zum Sprechen ansetzte, den Kopf nach hinten und unten zog. Wenn er aber versuchte, den Kopf aktiv nach oben und vorne zu richten, sah er im Spiegelbild, dass er den Kopf stattdessen weiterhin nach hinten und unten zog – so stark war dieser Automatismus in ihm ans Sprechen gekoppelt. Mit der Zeit fand er heraus, dass der Versuch, eine bestimmte Gewohnheit zu ändern, indem er das Gegenteil tat, erfolglos blieb. Stattdessen half es, die Gewohnheit gehen zu lassen und zu beobachten, was in dieser Leere Neues entstehen kann. So konnte er sich von der Heiserkeit befreien. F. M. Alexander legte Wert auf die Anerkennung durch westliche Wissenschaften und verfasste mehrere Bücher über seine Methode. 1931 begann er zuerst widerwillig Lehrer*innen auszubilden. Heute unterrichten weltweit über 4000 Lehrende die Alexander-Technik und es gibt Ausbildungsklassen in 18 Ländern. Nach F. M. Alexanders Tod begann sich die internationale Society of Teachers of the Alexander Technique (STAT) zu organisieren und später jeweils auch Verbände in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Die Methode basiert nicht auf konkreten Übungen, sondern auf der Anwendung bestimmter Prinzipien, auf die ich in einem weiteren Beitrag genauer eingehe und die meist in vier Grundsituationen unterrichtet werden: im Stehen, im Hinsetzen-Sitzen-Aufstehen, im Liegen mit aufgestellten Beinen und im Gehen. In diesen einfachen Settings können alle Prinzipien verinnerlicht und nach und nach im Alltag auf alle möglichen Bewegungsabläufe und Aktivitäten übertragen werden. Die Alexander-Technik ist eine Methode für alle. Es kann also kein vorgefertigtes Unterrichtsprogramm geben. Sie kann in jeder Sprache vermittelt werden und Schüler*innen mit unterschiedlichen Voraussetzungen helfen, indem Lehrer*innen auf individuelle Bedürfnisse eingehen und passende sprachliche Bilder finden. Während die Methode unsere Anatomie und Psyche in ihrer Komplexität würdigt, braucht es kein besonderes Wissen, um sie zu erlernen, anzuwenden und so zu einem harmonischeren Selbstgebrauch zu finden.

Die Alexander-Technik ist auch soziales Werkzeug und eignet sich für einen gesellschaftlichen Wandel hin zu gerechteren und von Herrschaftssystemen befreiten Strukturen. Lehrende, die durch Körperarbeit Achtsamkeit vermitteln, begleiten andere dabei, in einer Realität klarzukommen, in der wir keine Kontrolle haben über die vielen unvorhersehbaren Katastrophen und Konflikte. Körperarbeitende zeigen Wege auf, die eigenen Handlungsspielräume zu erkennen und zu erweitern. Nämlich indem sie Menschen dabei unterstützen, verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten einschätzen und Entscheidungen bewusster treffen zu können. Wenn wir uns bewusster für unser eigenes körperliches und psychisches Wohl entscheiden, entscheiden wir uns immer auch für das Wohl anderer. Denn als die hypersozialen Wesen, die wir sind, erreichen wir beständiges Wohlbefinden nur durch die Entscheidungen, die auch das Wohlergehen anderer stärken. Je mehr Erfahrung wir damit haben, desto treffsicherer wird auch unser Unterbewusstsein, wenn es darum geht, gerechtere, liebevollere und der Gesamtsituation zuträglichere Entscheidungen zu treffen. F. M. Alexander sah die menschlichen Anpassungsprobleme an den von uns veränderten Planeten und entwickelte eine Technik, die im Navigieren der Welt hilft, indem man sich selbst besser kennenlernt. Dass uns und nicht-menschliche Lebewesen Gewalt und Veränderungen von noch schwindelerregenderem Ausmaß erwarteten, konnte er bis zu seinem Tod im Jahr 1955 höchstens erahnt haben.












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